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Das Konzept der Wissenschaft der frühkindlichen Prägung (engl. Early Life Programming) geht bis auf den Biologen Jean-Baptiste de Lamarck zurück, der von einer „Vererbung erworbener Eigenschaften» sprach 1. Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde von dem Mediziner Günter Dörner an der Berliner Charité der Begriff der „Perinatalen Programmierung» entwickelt [2;3;4]. Zwanzig Jahre später bezog der englische Kinderarzt Alan Lucas die Ernährung mit ein und prägte den Begriff «Nutritional Programming» 5.
Immer mehr wissenschaftliche Daten weisen darauf hin, dass Umweltfaktoren am Anfang des Lebens langfristig die Gesundheit eines Menschen bestimmen. Man spricht von der Wissenschaft der frühkindlichen Prägung (engl. Early Life Programming; ELP).
Welche Rolle spielt die pränatale Prägung?
Mit besonderem Hinblick auf eine pränatale Unterversorgung wurde dieses Konzept von David Barker («The Barker Theory») weiter verbreitet 6. Er erforschte das von der Hebamme Ethel Margaret Burnside in der englischen Grafschaft Hertfordshire eingeführte Geburtsregister, in dem das Gewicht aller ab 1911 geborenen Kinder verzeichnet wurde und verglich diese Daten mit den Todesursachen der in dieser Grafschaft verbliebenen Menschen. So konnte er beispielsweise zeigen, dass ein Mann mit einem Geburtsgewicht unter fünf Pfund ein höheres Risiko hat, später an Herzinfarkt zu sterben. Ein niedriges Geburtsgewicht erhöhte ausserdem die statistische Wahrscheinlichkeit für Übergewicht, Bluthochdruck, Schlaganfall und Diabetes mellitus.
Mittlerweile liegen immer mehr wissenschaftliche Belege vor, die einen engen Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und Ernährung sowie nach der Geburt auf der einen Seite und einer langfristigen Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Erwachsenenalter, bis hin ins hohe Alter, auf der anderen Seite nachweisen 7;8. Danach basiert das Erscheinungsbild eines Menschen wesentlich weniger auf seiner vererbten DNA-Sequenz, sondern scheint über epigenetische Transmissionen (griech. „epí» = zusätzlich) an seine Nachkommen übertragen zu werden 9, also über Mechanismen, die mit der «Nutzung» seiner Gene zu tun haben.
Die Wissenschaft der frühkindlichen Prägung sieht sich als ganzheitlichen Ansatz, der nicht auf einzelne «magische» Faktoren oder Nährstoffe fokussiert ist, sondern Zusammenhänge zwischen verschiedenen Forschungsrichtungen und -ergebnissen herstellt. In diesem Ansatz spielt die Ernährung eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Rolle.
Auch andere Faktoren, wie die Lebensweise der Familie sowie Umweltfaktoren, wie Schadstoffe, Medikamente und Stress, können in einem frühen Stadium einen gravierenden Einfluss auf die spätere Entwicklung von Gesundheit und Krankheit ausüben (s. Abb. 2).
Die Forschung hat dabei die wichtige Aufgabe zu verstehen, welche Umstände und Nährstoffe einen optimalen Start ins Leben unterstützen. Wenn das gelingt, wäre dies eine grosse Chance, Gesundheit und Wohlbefinden zu steigern, Kosten für das Gesundheitssystem zu reduzieren und Produktivität und Wohlstand unserer Gesellschaft zu erhöhen. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft wichtig10.
Warum ist die frühkindliche Prägung so wichtig?
Die Menschen der entwickelten Industrienationen leben immer länger. Doch leider steigen nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die sogenannten Volkskrankheiten, auch «nicht-übertragbare Krankheiten» genannt (engl. non-communicable diseases, NCDs).
Zu diesen Volks- oder Zivilisationskrankheiten gehören:
- Übergewicht
- Diabetes
- Allergien
- Kardiovaskulären Erkrankungen wie Bluthochdruck, koronare Herzerkrankungen oder Herzinfarkt
Die aktuelle Wissenschaftslage lässt vermuten, dass der Anstieg dieser Erkrankungen auch auf eine frühkindliche Prägung durch Umwelt und Ernährung zurückzuführen ist.
Gerade Allergien stellen ein weltweites Gesundheitsproblem dar: Etwa 20 bis 30 Prozent aller Kinder in Europa haben eine allergische Erkrankung, mit offensichtlich steigender Tendenz. Allergien bleiben auch über die Säuglingszeit und Kindheit hinaus ein Problem: Schätzungsweise 50 Prozent aller Kinder mit allergischem Asthma und 80 Prozent mit allergischem Schnupfen haben noch als Erwachsene diese allergischen Symptome. Persistierende Symptome werden auch für die atopische Dermatitis im Kindesalter bei 25-50 Prozent der Erkrankten mit 16 Jahren beobachtet 12.
Spezifische Präventionsmassnahmen sind heute verfügbar, um die Inzidenz der atopischen Erkrankungen – allen voran die atopische Dermatitis – im Kindesalter zu reduzieren oder zumindest in ihrem Ausbruch zu verzögern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die frühe Sensibilisierung des Säuglings durch Nahrungsmittelallergene zu verhindern – insbesondere bei Säuglingen mit einem hohen Allergierisiko. Denn Nahrungsmittelallergene stellen den grössten Anteil an natürlich vorkommenden Allergenen im Säuglingsalter dar.
Einfluss der Ernährung auf die Gesundheit
Der Genpool des Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht verändert. Aber durch die Art und Weise, wie Gene «genutzt» werden, können Menschen sich an eine sich verändernde Ernährungssituation anpassen.
Daraus ergibt sich, dass die genetische Veranlagung nur einen sehr kleinen Teil des Risikos erklärt, ob wir im Laufe des Lebens bestimmte Krankheiten erleiden oder nicht. Der Anstieg der Volkskrankheiten, auch nicht-übertragbare Krankheiten (engl. non-communicable diseases; NCDs) genannt, wie Übergewicht, Diabetes Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, in den letzten Jahrzehnten kann nicht allein durch «Vererbung» oder Lebensstilfaktoren erklärt werden. Zwar sind unsere Gene bereits zum Zeitpunkt der Konzeption festgelegt, unsere individuelle Entwicklung wird aber wesentlich von Umweltfaktoren früh im Leben beeinflusst.
Frühkindliche Prägung durch Stillen
Wichtigster positiver „Programmierer» in der frühkindlichen Ernährung ist die Muttermilch. Stillen ist ein wichtiger Schutzfaktor beispielweise zur Reduktion des Adipositas- und Allergierisikos in einer späteren Lebensphase. Auch die Prägung der Gehirnentwicklung wird durch Stillen beeinflusst. Die Unterstützung der Gehirnentwicklung im frühen Lebensalter ist besonders wichtig, um eine optimale psychomotorische und kognitive Funktion im späteren Lebensalter zu sichern.
Eine Reihe von Studien weist darauf hin, dass Stillen im Vergleich zur Ernährung mit Muttermilchersatzprodukten das Übergewichtsrisiko und insbesondere auch das Risiko von Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 25 bis 40 Prozent vermindern kann. So zeigte eine Metaanalyse aus 23 Studien, dass Stillen im Vergleich zu Nichtstillen im Mittel zu einer 25 prozentigen Reduktion des Risikos führt, im späteren Kindes- oder Erwachsenenalter Übergewicht zu entwickeln 14.
Eine weitere Metaanalyse konnte zeigen, dass insbesondere die Stilldauer einen starken Einfluss auf das Risiko späteren Übergewichts hat 15. Stillen führt hiernach, bis zu einer Stilldauer von neun Monaten, zu einer Senkung des Übergewichtsrisikos im späteren Leben. Jeder Monat des Stillens reduziert das Risiko des Kindes, später Übergewicht zu entwickeln, um vier Prozent. Ab circa sieben bis neun Monaten wird ein Plateau erreicht.
In Anbetracht der zentralen Rolle von Übergewicht bei der Entstehung von Diabetes mellitus Typ 2 und kardiovaskulären Erkrankungen wäre zu erwarten, dass Stillen auch präventiv hinsichtlich dieser Krankheiten wirkt. Tatsächlich zeigen mehrere systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen, dass sowohl das Risiko für Typ-2-Diabetes als auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gemessen anhand der Indikatoren Blutdruck und Cholesterolkonzentrationen, durch Stillen positiv beeinflusst werden 16;17;18. Tierexperimentelle Studien weisen darauf hin, dass für diese Veränderungen eine neonatal induzierte „Fehlprogrammierung» der hypothalamischen Regulation von Nahrungsaufnahme, Körpergewicht und Stoffwechsel entscheidend sein dürfte 19;20;21.
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